Blind auf einem Auge?

Die Nachrichten und TV-Reportagen sind voll davon: arme griechische Bürger, die vor Suppenküchen anstehen, auf Müllhalden nach Lebensmitteln suchen und völlig verzweifeln, weil der Geldautomat keine Euro mehr ausspuckt. Taxifahrer, die befürchten, ihre gutbürgerliche Existenz samt Wohnung zu verlieren. Gastwirte voller Angst, ihr Restaurant schliessen zu müssen. Handwerker und Dienstleister, die keine Aufträge mehr bekommen und ihre Mitarbeiter entlassen müssen, die dann nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren können.
Rentner sind zu sehen, die weinend zusammenbrechen und die Welt nicht mehr verstehen; verzweifelte Kranke, die nicht wissen, woher sie ihre Medizin bekommen, die sie nicht einmal bezahlen können.
Es sind schlimme Bilder, die seit ein paar Wochen über die Bildschirme flimmern. Und griechische Syriza-Abgeordnete reden von Würde, Erpressung und Staatsstreichen. Sie klagen die europäischen Politiker an, nicht genug zu tun und akute Hilfen zu verweigern. Sie fordern Solidarität und Bürger anderer Länder dazu auf, den europäischen Gedanken zu leben.
Stimmt, es ist schrecklich, all das mit ansehen zu müssen. Und es passiert in einem entwickelten Land mitten in Europa, nicht weit weg irgendwo in Afrika oder Asien. Es ist tatsächlich eine Schande, wie das griechische Volk derzeit leiden muss, wie die Bevölkerung immer mehr verarmt und sich Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung breit machen.
Aber warum sehen die griechischen und anderen europäischen Politiker nur auf einem Auge? Griechenland ist mehr als Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Armut.

Denn auch das ist Griechenland: Eine kleine Gruppe von Griechen ist märchenhaft reich und denkt gar nicht daran, einen Teil des möglicherweise in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Rücken der eigenen Landsleute ergaunerten Vermögens abzugeben, um die schlimmste Not im Land zu lindern. Die griechischen Regierungen werden seit 1981 von Europa mit Milliarden (Kohäsionsfonds, Infrastrukturmassnahmen) unterstützt. Gelder, die in die Taschen der Kleptokraten, Oligarchen und Korrupten wanderte, statt Veränderungen im Land zu bewirken. Von reichen Reedern diktierte Verfassungsartikel zur Steuervermeidung mehren deren Reichtum seit Jahrzehnten. Vermögen im Ausland zu horten, gehört inzwischen zum Alltag der superreichen Griechen.
Sie sind stolz darauf, Griechen zu sein und lieben ihr Vaterland, wie sie nicht müde werden zu beteuern. Aber wenn es an den Geldbeutel geht, hört die Vaterlandsliebe auf. Nach meinen Informationen verfügen die reichsten Griechen über Vermögen von mehr als einer Billion Euro!
Und was das Merkwürdige ist: das ist kaum ein Thema in den Interviews mit griechischen, sozialistischen(!) Politikern. Keiner fordert eine Reichensteuer, keiner fordert einen Lastenausgleich, wie er in Deutschland nach dem Krieg verordnet wurde. Keiner macht sich daran, die Liste mit tausenden von griechischen Steuerhinterziehern abzuarbeiten und das Geld einzufordern. Keine Regierung verlangt auch nur einen Cent von den zwölf griechischen Familien, die dem Staat fünfzehn Milliarden Euro an Steuern schulden. Keine Regierung fordert die 2.000 reichsten Griechen dazu auf, ihren Teil dazu beizutragen, damit Griechenland wieder auf die Beine kommt. Irgendwie haben die Griechen ihre reichen Kleptokraten völlig ausgeblendet. Ein Ergebnis jahrzehntelanger „Erziehung“?
Es macht mich wütend, dass sich unsere Politiker sehenden Auges in diesen Wahnsinn treiben lassen. Sie werfen Geld in ein Fass ohne Boden, das in den eigenen Ländern an allen Ecken und Enden fehlt und für das noch viele Generationen nach uns geradestehen müssen, wenn diese Politiker schon längst nicht mehr im Amt sind. Da wird jetzt ein Europa „gerettet“, das es so nur in den Köpfen der europäischen Politiker gibt. Es macht mich wütend, dass gegebene Versprechen gebrochen werden, kaum dass man den Besprechungsraum verlassen hat. Da werden Regeln aufgestellt, die nicht eingehalten werden. Aber Regeln machen nur dann Sinn, wenn sich jeder von denen daran hält, die sich diese Regeln einvernehmlich gegeben haben.
Es macht mich wütend, dass Probleme mit Geld zugeschüttet werden, statt sie unter Einhaltung der gegebenen Regeln zu lösen. Schuldenschnitt? Natürlich nicht, aber man kann es ja anders benennen. Staatsfinanzierung durch die EZB-Hintertür? Nicht doch, da machen wir was ganz anderes. Transferunion? Ach was, doch nicht mit uns, ist nach den EU-Verträgen ja auch nicht vorgesehen. Aber in ein paar Jahren wird es genau darauf hinauslaufen. Das nächste Hilfspaket kommt bestimmt. Müssen Verträge nicht eingehalten werden? So habe zumindest ich es gelernt.
Welcher Mensch mit ein bisschen Verstand kann wirklich glauben, dass ein Staat mit 11 Millionen Bürgern in der Lage sein wird, seine Schulden von rund 500 Milliarden Euro zurückzuzahlen? Ohne Steuerreform, die den Namen auch verdient? Ohne Kürzung der Konsumausgaben des Staates? Ohne Erhöhung der Investitionen, um die Wirtschaft anzukurbeln? Ohne radikalen Umbau der Verwaltung und der Behörden?
Da läuft etwas aus dem Ruder in Europa und es wird etwas zusammengepresst, was nicht zusammenpasst. Und Vertrauen, Ehrlichkeit, Wahrheit und Klarheit bleiben auf der Strecke. Ja, ich bin ein verdammt wütender Europäer, denn ich möchte in einem Europa leben, das gerade wegen seiner grossen nationalen und kulturellen Unterschiede innerhalb allgemein gültiger Regeln existiert und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht.